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Rezension zu „Geniale Störung – Die Geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken“, (Originaltitel: „Neurotribes – The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity“, Steve Silberman
Ich gebe es zu; ich habe mit mir gerungen, ob ich empfehlen soll, dieses Buch jedem Fachmenschen und/oder Angehörigen verpflichtend zu verschreiben; inklusive Phantasien darüber, wie ich jeden Einzelnen zu den Kernthemen abfrage, um festzustellen, ob sie es wirklich gelesen haben oder nur darauf gewartet, dass die Inhalte durch ihr Kopfkissen über ihre Haarspitzen in ihr Hirn diffundieren.
Man kann sagen, ich habe einen Mittelweg gefunden, was für meine Glaubwürdigkeit als Verfechterin gewaltfreier Kommunikation, Mediation und selbstbestimmten Lernens sicher zuträglich ist.
Nun zum Inhalt:
Ich kann hier in der Kürze nur umreißen, was Steve Silberman mit diesem Monumentalwerk geleistet hat.
Dieses Buch hat mich tief berührt und abwechselnd tieftraurig gemacht, schockiert und stückweise geradezu paralysiert.
Silberman beginnt mit der exemplarischen Lebensgeschichte eines der bedeutendsten Wissenschaftlers und Entdeckers des 18. Jahrhunderts, Henry Cavendish, der sein Leben lang in seine Messungen, Entdeckungen und Forschungen abgetaucht war und berüchtigt für sein schroffes, exzentrisches Verhalten. Ein Genie, das sich mit nichts anderem als seinen Leidenschaften beschäftigte. Seine Zeitgenossen rätselten, was es mit seinem außergewöhnlichen Verhalten auf sich hatte und beschrieben ihn unter anderem als „beinahe krankhaft schüchtern und verlegen“. Ganz wesentlich finde ich die Feststellung, dass Cavendishs großes Glück darin lag, aus einer wohlhabenden Familie zu stammen und sich seine ganz private Welt schaffen zu können, einen quasi autistischen Raum, wie es später heißt, so dass er nicht wie damals üblich als Abweichler in einer Irrenanstalt gelandet ist, wo man damals „in sich gekehrte“ Patienten behandelt hat, sondern die Welt verändernde Erfindungen machen konnte.
Die überragende Leistung Silbermans liegt auch in der akribischen historischen Aufarbeitung der Geschichte des Autismus und der „Neu“-Entdeckung Hans Aspergers als dem (von Leo Kanner geflissentlich ignorierten) Urvater der Betrachtung von Autismus als Kontinuum, als Spektrum. Und der Beschreibung autistischer Kinder als „kleine Professoren“ und zwar nicht, wie sie heute mit der (schon immer obsolet gewesenen) Unterscheidung in Kanner/frühkindliche Autisten und Asperger-Autisten als niedrigfunktionale versus hochfunktionale immer noch vorherrscht, sondern als früheste Stärken-Perspektive, als Potential-Blick für autistische Intelligenz und zwar ganz unabhängig davon, ob derjenige sprach und typisch „aspergisch“ erschien oder scheinbar sinnlos, wie es später diskriminierend beschrieben wurde und sogar heute noch im pathologischen Blick immer noch wird, Formen ordnete.
Asperger sah im scheinbar sinnlos repetitiven Anordnen frühe Anzeichen für spätere Berufe z.B. als Physiker. „Sie schlossen nicht aus, dass ein Junge, den in Sand gezeichnete Dreiecke faszinierten, eines Tages Professor für Astronomie werden könnte.“ Die Kinder auf der heilpädagogischen Station wurden in ihrer Andersartigkeit, geachtet, wertgeschätzt und gefördert. Insbesondere Lazars Betonung, dass Einrichtungen dieser Art nicht zu klein sein dürften, damit jedes Kind einen ganz ähnlichen Kameraden finden könne, zeigt schon eine Fortschrittlichkeit in Richtung Peer Support, die selbst heute noch kaum Beachtung findet.
Was mich besonders geschockt hat, war, wie es dazu gekommen ist, dass bis heute die meisten Menschen glauben, Asperger hätte nur „hochfunktionale“ Kinder im Blick gehabt und gefördert. Der Stamm seiner „kleinen Professoren“ umfasste die gesamte Bandbreite des Spektrums. Er hat die Hochfunktionalität später hervorgehoben, um seine kleinen Patienten vor dem Vernichtungsprogramm der Nazis zu schützen. (Nachtrag 2018: Offensichtlich ist dieses Beschützen ein Mythos gewesen. Die Beweise, dass auch Asperger „seine“ Patienten, den Nazis ausgeliefert hat, sind überwältigend überzeugend und erschütternd: https://www.theguardian.com/world/2018/apr/19/hans-asperger-aided-and-supported-nazi-programme-study-says ).
Leo Kanner, der später in den USA beinahe zeitgleich den „Autismus entdeckte“, hatte offensichtlich die Doktorarbeit von Asperger zur Kenntnis genommen, sie aber nicht weiter erwähnt, so dass sie in den USA nie wirklich bekannt wurde und stattdessen Kanner selbst, der eigentlich einen Doktor in Kunstgeschichte hatte, diesen flugs in Psychologie umerfand und mit der Beschreibung von Autismus als seltener Störung eine Entwicklung begründete, die zu einer tragischen Stigmatisierung, Misshandlung und Verhinderung von Leben geführt hat, unter der noch heute Tausende AutistInnen weltweit leiden.
Kanner sah im Anordnen von Gegenständen vor allem die Abweichung im sozialen Kontakt, die er zeitlebens als krankhaft beschrieb und begründete damit zum einen das Pathologie-Paradigma (Autismus als eine Art Kindheitspsychose, eine Art pathologische Manie) und zum anderen den Mythos, dass Autismus selten sei.
Die Entwicklung in den USA, in der das Aufkommen der Psychoanalyse dazu führte, dass man dazu überging, Autismus als eine frühe Störung anzusehen, die von „Kühlschrankmüttern“ ausgelöst wurde, hat unzähligen Menschen weiteres Leid gebracht und den Fokus sowohl auf Ursachenforschung als auch auf Heilung gelenkt, was bis heute verhindert, dass genug Forschungsgelder in die Entwicklung von Dienstleistungen und Unterstützungssystemen gesteckt werden.
Das Kapitel über ABA (Applied Behavior Analysis) oder deutsch AVA (Angewandte Verhaltensanalyse) hat mir das Herz gebrochen.
Die Beschreibung der Foltermethoden des Begründers der ABA „Therapie“, Ivar Lovaas, ist aus vielerlei Gründen unerträglich. Hier nur eine kurze Skizze: Man nahm an, autistische Menschen seien keine menschlichen Wesen bzw. Wesen, die in einer autistischen Schale feststeckten und man müsse sie mit einer Mischung aus Methoden der Tierkonditionierung und Schwulen-Umerziehung zu normalen, nämlich nicht-autistischen Menschen konditionieren. Musik/Lärm-Folter und schwere Elektroschocks in Verbindung mit psychischer Gewalt in Form von Aufforderungen zu „Sozialem Verhalten“ wie Umarmungen. Lächeln, Blickkontakt und Küsschen geben rundeten das menschenverachtende „Therapieangebot“ ab.
Ganz besonders perfide: Stress-Reduktions-Kompetenz wie selbststimulierendes Verhalten (Drehen, Händeflattern, Laute etc.) wurden als sinnlos diffamiert und mittels Bestrafung abtrainiert, was heute noch Auswirkungen auf den Umgang und die Bewertung autistischer Stressreduktion ist, was ich noch im Jahr 2016 geschockt auf einer Veranstaltung in Wien beobachten konnte, auf der eine Mutter versucht hat, ihrem Sohn die „Lauten Hände“ zu verbieten mit dem Erfolg, dass er dann dazu überging, seine Nase an ihrem Busen zu reiben, was ihr dann aber auch nicht recht war.
Spannend ist auch die Geschichte der Elternbewegung und der Geschichte des Entstehens der Selbstvertretungs-Community mit Sinclair und später Ari Ne`eman als Mitbegründer des politischen Selbstvertretungsnetzwerks ASAN.
Der Beginn der Selbstvertretungen und der damit einhergehenden Selbstbeschreibungen außerhalb der vorherrschenden defizitären, diffamierenden, pathologischen Sichtweise nicht-autistischer „Fachleute“ und damit verknüpft des bewussten Schaffens sicherer autistischer Räume von und für autistische Menschen hat für die größte Minderheit der Welt Räume eröffnet, in dem das Sich selbst Erleben in Würde und Sicherheit und der Zugehörigkeit zu einem eigenen Stamm mindestens so gut scheint wie die ursprünglich angedachte Lösung, sich irgendwann einfach vom Raumschiff nach Hause bringen zu lassen.
Und das ist das, was hängenbleibt in der Essenz: Die Würdigung autistischer Menschen als eigenem Stamm, als neurodivergentem Teil der Menschheit, der unbedingt gebraucht wird und schon immer gebraucht wurde in der Welt.