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Stäbe

26.06.2012

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

 

Die Quintessenz der Verhinderung eines Lebens.

Ob heute oder vor 110 Jahren:  Diese Art des Einfühlens in ein anderes Lebewesen in einer von  Nicht-Autisten  dominierten Welt scheint mir selten vorzukommen.

Sie können es jetzt nicht sehen, aber ich knie gerade huldigend vor einem lebensgroßen Bild des Dichters. Das geht ganz schön auf die Knie, deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich nun fortfahre.

2  Sätze am Anfang dieses Stücks, die mein Leben verdichten.

im Jahr 2000 hab ich es das erste Mal gelesen; als Inspirations-Vorgabe eines Lehrers für ein Hörbild,, das ich als Auszubildende zur Mediengestalterin Bild und Ton machen sollte.

Lustigerweise habe ich dabei neben einer Enkelin Rilkes gesessen.

Es dauerte nicht mal eine Stunde; da wusste ich, was dazu passt: Ein sensorischer Overload eines autistischen Menschen in einem Cafe.

Wie ich darauf kam? Das berühmte Unterbewusstsein oder wie es andern Orts heißt ich als ich, wenn ich nicht verhindere, was Wahrheit ist,  wusste offenbar die ganze Zeit  Bescheid über mich. Wusste, dass ich autistisch bin. Wusste, dass es da in diesem Hörbild um niemand anderen als mich gehen sollte.

Ich habe diesen Overload akustisch so montiert, wie ich ihn schon unzählige Male zuvor erlebt hatte, ohne zu wissen, was er bedeutet für mein Leben.

Hört sich pathetisch an? Stimmt. Existentialistische Dinge klingen manchmal genau so dramatisch, wie sie sind.

Im Vorübergehn der Stäbe …

Ich bin sicher mehrmals um die Welt gegangen und zu meinem Entsetzen immer an diesem Ort der Beschneidung angelangt; an diesem Ort, der nirgends ist; an diesem Ort, der mich trennt.

Unsichtbar, ja; aber sie sind da, die Stäbe. Ich kann sie sehen.

Ich pralle an ihnen ab, wenn ich sie selbst fast vergessen habe.

Immer wieder sind da Menschen, die von draußen auf mich schauen und nicht sehen, was da unsichtbar ist zwischen uns. Sie können  die Stäbe gar nicht sehen, aber sie können sie spüren. Sie werden ärgerlich, wenn sie im Weg sind, weil sie die Barriere nicht sehen können. Sie sind ganz enttäuscht dann, weil sie die Stäbe für eine Sabotage halten, die sie mir gar nicht zugetraut haben; nett und neurotypisch, wie ich meist wirke.

Wenn ich hinter die Stäbe  schaue, dann ist da ja doch irgendwie Welt. Ja gut, aber …

Was ist denn da, wenn da Welt ist? Wie findet die denn statt? Nichts, was ich greifen könnte. Nichts für mich zu begreifen.

Ich bin ganz allein an diesem Ort. Was eigentlich O.K. ist, wenn ich nicht gerade versuche bei irgend so einer Mainstream-Sache mitzumachen und an den Stäben abpralle.

Nimm dich in acht, Chaos. Ich kann dich auf meinem inneren Gleichgewicht herumhopsen sehen!

Das macht dir gar nichts; ich weiß. Ich dachte, ich drohe einfach mal der Form halber.

Das muss es ja auch geben.

Die Fahrt in den Zügen ist ein Kaleidoskop aus rhythmischen und manchmal unerwarteten  harten, spitzen Geräuschen, unkontrollierbaren Einheiten Mensch,  die natürlich meist in total falschem Rhythmus meinen Weg kreuzen. Wär ja auch zu schön, wenn jeder einfach nur immer rechts auf den Treppen entlangginge statt kreuz und quer; mal links, mal in der Mitte. Überall bewegen sich Dinge. Rolltreppen, Menschen, Lichter.

30 Meter von mir verschiebt sich ein Screen. Er flimmert; sein Bild läuft ständig durch. Ich flüchte und stehe vor einer unbewegten Litfaßsäule. Als ich mich umdrehe, bekomme ich einen Riesenschreck, denn vor mir steht ein riesiger Mann. Es ist nur eine überlebensgroße Fotografie.  Sie hat mich zu Tode erschreckt.

Ich schlucke tapfer und schaue auf die  reflektierenden Lichter, die hier und da aufblitzen, um völlig ungeordnet kleine, stichelnde Reize an mein Gehirn zu senden.

Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom.

Wie ist das eigentlich?

Wie ist das eigentlich, wenn du unsichtbar für andere mit Barrieren kämpfst und selbst die besten Freunde nicht begreifen, wer du eigentlich ist und du selbst auch nicht?

Wie ist das eigentlich, dich über Jahrzehnte  wie ein Möchtegern-Mensch zu fühlen, wie ein falsches Selbst; wie eine, die den Fehler einfach nicht finden kann, egal, wie oft sie das System überprüft?

Wie ist das eigentlich, wenn sich Menschen abwenden, ohne dir zu sagen, welchen Fehler du gemacht hast, aber immerhin durch plötzlichen Kontaktabbruch dir zeigen, dass du wieder etwas falsch gemacht hast; irgendeine ungeschriebene Regel verletzt?

Wie ist das eigentlich, wenn sogar deine eigene Mutter glaubt, dass du niemanden lieben kannst; nur gut schauspielern, um deinen Egoismus zu kaschieren?

Wie ist das eigentlich, die Worte zu hören, aber die Botschaft nicht?

Wie ist das eigentlich, wenn du Signale nicht verstehst und erst nach dem Kaputt-Treten deiner Grenzen  begreifst, das Wesentliche  nicht rechtzeitig dechiffriert zu haben ?

Wie ist das eigentlich, wenn du wie ein froher junger Hund durch die Welt springst und dann niedergebrüllt wirst dafür, dass du kein Kätzchen bist?

Wie ist das eigentlich, wenn du dich mit pochendem, angstvollen Herz in die Stunde schleichst  und vom Lehrer verhöhnt und gedemütigt wirst, weil dein verhalten unglaubwürdig sei?

Wie ist das eigentlich, dich ein halbes Leben nicht wehren zu können, weil du nicht versteht, was sie dir antun?

Wie ist das eigentlich, wenn sie an dir zerren und wissen wollen, was los ist, wenn du auch nur eine Sekunde du selbst bist?

Wie ist das eigentlich, wenn du sagst: Ich kann nicht mehr und du meinst, dass der Lärm, die Lichter, die falschen Rhythmen, die Ohnmacht, das Chaos der ach so geordnet wirkenden Stäbe  es dir nicht möglich macht in die U-Bahn zu steigen, und sie verstehen: Ich kann nicht mehr; ich würde viel lieber lesen oder mal wieder Urlaub machen?

Wie ist das eigentlich, wenn du einen Sog hast, der dich zum Studieren, Vertiefen und Versenken zieht und kannst ihm nicht folgen, weil du sonst all deinen Überblick über das Chaos komplett verlierst?

Wie ist das eigentlichen, wenn du tagtäglich in den Zügen gegen den Sog kämpfst, nur damit die anderen Menschen nicht fühlen können, dass dort Stäbe sind zwischen dir und ihnen?

Wie ist es eigentlich dein ganzes Leben Projektionsfläche für  andere Menschen zu sein und selbst nur zu schauen und die reine Information zu suchen?

Wie ist das eigentlich, vor lauter unsichtbaren Assoziationsketten in deinem Kopf kaum Blick auf den Strang zu haben, der zu deinem Alltag führt?

Wie ist das eigentlich, dich dein Leben lang wie ein Möchtegern-Mensch zu fühlen, der nicht mitmachen kann, weil ihn die Stäbe daran hindern, und doch glaubst du nur, du hast einen Fehler im System?

Wie ist es eigentlich, so oft gescheitert zu sein, dass du das Leben schon aufgegeben hattest?

Wie ist es eigentlich, das Wunder erlebt zu haben, am dunkelsten Ort das reinste Licht erfahren zu haben?

Wie ist das eigentlich, wenn Du all dein Flattern verhinderst, all dein Verzögern, damit du die anderen nicht erschreckst?  Oder sie dich.

Wie ist das eigentlich wenn du dich selbst ganz verhinderst, damit du nicht durch die Stäbe blitzen lässt, was in dir lebt?

Ja. Wie ist das eigentlich.

Ach, und Sie haben gar keine Inselbegabung? Nö. Glaub nich.

Ja, Routinen hab ich auch. Duschen und so. Jeden Morgen mach ich das. Es ist zum Verrücktwerden. Und wenn dann mal kein Kaffee da ist. Grauenvoll, ich sags ihnen. Ja, ein bisschen Autismus steckt wohl in uns allen, was?

Ja?

Soso …

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